EUROCODE-Konferenz: Gelungene Vorstellung der „zweiten Generation“ im DIBt
Es geschieht nicht alle Tage, dass mehr als 1500 Tragwerksplaner, Architekten, Prüfingenieure, Sachverständige und Vertreter der Bauaufsichten aus 66 Ländern im Hybridformat zu einer Konferenz zusammenkommen. Die EUROCODE-Konferenz am 24. Mai 2023 im Deutschen Institut für Bautechnik (DIBt) war ein solcher Anlass.
Auf dem Programm stand ein Sachstandsbericht über die wesentlichen Änderungen und Neuerungen, die die „zweite Generation“ der Eurocodes – des EU-weiten Bemessungsregelwerks – mit sich bringen wird. Die Entwicklungen wurden aus erster Hand von den Vorsitzenden des zuständigen Technischen Komitees CEN/TC 250 und seiner Unterausschüsse vorgestellt. Beginnend mit einem allgemeinen Überblick und den Grundlagen der Bemessung führte die Reise quer durch alle Bauarten, von Metall und Glas, über Beton, Verbundbau und Mauerwerk zu Holz, Geotechnik und Erdbebensicherem Bauen.
Die Veranstaltung wurde vom DIBt mit Unterstützung der Europäischen Kommission, des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauen (BMWSB), des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) und der Initiative für Praxisgerechte Regelwerke im Bauwesen durchgeführt. Durch das Programm führte Carmen Holzwarth, DIBt.
Gerhard Breitschaft, Präsident des DIBt und gleichzeitig stellvertretender Vorsitzender des CEN/TC 250, begrüßte die Gäste im Saal und die rund 1500 online Zugeschalteten. Er erläuterte auch, warum die Veranstaltung im DIBt stattfand: Das DIBt schaut auf eine lange Geschichte mit den Eurocodes zurück. Es stellte z.B. den ersten und dritten Vorsitzenden des CEN/TC 250. Bis heute engagiert sich das Institut maßgeblich im Bereich der Eurocodes, etwa durch Begleitung von Forschungsarbeiten und Mitarbeit in den einschlägigen Normungsgremien. „In Deutschland ist die erste Generation der Eurocodes bauaufsichtlich eingeführt, und wir im DIBt werden uns auch für eine schnelle und anwenderorientierte Einführung der zweiten Generation einsetzen.“
Als Grußredner sprachen Gwenole Cozigou, Direktor für Bauwesen, Maschinen und Standardisierung bei der Europäischen Kommission, und Dietmar Menzer vom Bundesbauministerium (BMWSB).
Gwenole Cozigou stellte zunächst das Ziel der gesamten Eurocode-Serie in den Vordergrund: den Austausch zwischen Experten zu ermöglichen und das unglaubliche ingenieurstechnische Wissen, das in Europa verfügbar ist, für alle einschlägig Vorgebildeten zugänglich zu machen. Die erste Generation der Eurocodes habe eine wichtige Grundlage für einen einheitlichen, europäischen Ansatz geliefert, sei aber zum Teil noch sehr theoretisch gewesen. Durch die verstärkte Einbindung aller Beteiligten, sei es dem CEN/TC 250 nun gelungen, technische Dokumente vorzulegen, die den Bedürfnissen professioneller Anwender gerecht werden. „Diese Normen wurden durch Sie und für Sie geschrieben […]. Vielen Dank für Ihre Arbeit und das Erreichte, und seien Sie darauf gefasst, dass wir auch in Zukunft auf Ihr Engagement zählen werden.“
Dietmar Menzer wies in seinem Grußwort darauf hin, dass ökonomische und ökologische Gesichtspunkte, insbesondere die Aspekte der Nachhaltigkeit, eine immer wichtigere Rolle für den Planungsprozess spielten. „Wenn diese Belange in den Eurocodes angemessen berücksichtigt werden, steht einer Fortsetzung der ‚Erfolgsgeschichte Eurocodes‘ nichts im Weg.“
Der Vorsitzende des CEN/TC 250, Steve Denton, stellte das Arbeitsprogramm unter M/515, dem Mandat der Europäischen Kommission für die grundlegende Überarbeitung und Erweiterung der Eurocodes, im Gesamten vor. Mit rund 1500 beteiligten Experten auf EU-Ebene und geschätzt 15.000 auf nationaler Ebene ist das Projekt das bisher umfangreichste Normungsprojekt der EU-Geschichte. Den Schwerpunkt seines Vortrags legte er auf zwei grundlegende Ziele der Überarbeitung: Nutzerfreundlichkeit (ease-of-use) und Konsensbildung (consensus). Im Rahmen der Schlussworte unterstrich er nochmals „Letztlich ist die Reaktion der Anwender der wichtigste Gradmesser dafür, ob wir erfolgreich waren. Im Fokus werden dabei die Nutzerfreundlichkeit stehen, und die die Frage, ob die Normungsinhalte, die wir ergänzt haben, den Fachleuten helfen, ihren Alltag zu bewältigen und den Herausforderungen gerecht zu werden, die auf uns zukommen, insbesondere natürlich im Bereich der Nachhaltigkeit.“
Im Anschluss daran stellten die Vorsitzenden der Subcommittees die wesentlichen Änderungen in den einzelnen Eurocode-Teilen vor. Im Detail lassen diese sich anhand des Konferenzmitschnitts und der Präsentationen verfolgen.
Das Publikum beteiligte sich durch aktive und sachkundige Nachfragen im Chat und live während der Fragerunden, die von Ronald Schwuchow, Leiter des Bereichs „Grundlagen der Standsicherheit“ am DIBt und CEN/TC 250-Delegierter, moderiert wurden.
Summarisch hier einige Grundelemente, die sich wie ein Leitfaden durch alle Vorträge und Diskussionen zogen:
Die neue Generation der Eurocodes enthält zahlreiche Anpassungen an den Stand der Technik. Es wurden neue Materialien, Technologien, Bemessungsmethoden und Anforderungen aufgenommen. Exemplarisch seien hier genannt:
- Entwicklung eines neuen „Eurocodes 10“ zu Glas im Bauwesen
- Weiterentwicklung numerischer Verfahren, etwa der Finite-Elemente-Methode im Stahlbau
- expliziter Hinweis in EN 1990, dass die grundlegenden Anforderungen an Bestandsbauten von den Anforderungen für Neubauten abweichen können. Intendiert ist hier eine Stärkung des Bestandserhalts, wobei der Regelungsvorbehalt bei den Mitgliedstaaten liegt.
- verstärkte Berücksichtigung von Einwirkungen aufgrund von Klimaveränderungen
- Erfassung der Abhängigkeit der erforderlichen Sicherheit von Schadensfolgen und von Qualitätssicherungsmaßnahmen
- und viele andere mehr
Bei allen Veränderungen betonten die Referierenden auch immer wieder die Kontinuitätslinien zwischen erster und zweiter Generation. Wer mit der ersten Generation der Eurocodes vertraut sei, werde sich auch in der neuen Generation gut zurechtfinden.
„It’s an evolution, not a revolution.” (Paolo Formichi, CEN/TC 250/SC 10)
Auch die Aufgabe, die Eurocode-Reihe anwendungsfreundlicher zu gestalten, haben die Arbeitsgruppen ernst genommen. Davon zeugen Streichungen von Redundanzen und wenig praxisrelevanten Abschnitten bzw. Alternativen, aber auch eine konsequente Strukturierung, der Einsatz von Ablaufdiagrammen, Zeichnungen und Zuordnungstabellen sowie Klarstellungen, redaktionelle Korrekturen und Straffungen. Ein besonderes Augenmerk lag zudem auf der Beseitigung von Überschneidungen und Inkonsistenzen zwischen den einzelnen Teilen der Eurocode-Serie, da diese in der Praxis in der Regel in Kombination zur Anwendung kommen. Zunehmend in den Fokus getreten ist zuletzt die Schnittstellenarbeit zur Bauproduktenverordnung. Durch den CPR-Acquis-Prozess öffnet sich hier ein „Gelegenheitsfenster“, das für die Bauwerkssicherheit so fundamentale Ineinandergreifen von Bauprodukt- und Bemessungsnormen systematisch anzugehen.
Gegen eine Reduktion des Aspekts Nutzerfreundlichkeit auf die reine Frage des Textumfangs wehrten sich die Experten und verwiesen auf die vielen Neuerungen, die in die Normen Eingang gefunden haben und die letztlich der Praxis zugutekommen.
„Die Seitenzahl allein ist kein Indikator für Nutzerfreundlichkeit.“ (Stefan Winter, CEN/TC 250/SC 5)
Viele Fragen aus dem Publikum gab es auch zur Zeitschiene. Wann wird die zweite Generation der Eurocodes für die Planungspraxis relevant (oder gar verbindlich)? Hier mussten die Referierenden immer wieder darauf verweisen, dass die Umsetzung nicht in ihrer Hand, sondern in der der nationalen Regelsetzer liegt.
Mehrfach wurde an die nationalen Normungsinstitute appelliert, frühzeitig mit der Arbeit an den Nationalen Anhängen zu beginnen.
Am Ende des Konferenztages stand die Würdigung der herausragenden kooperativen Leistung, die hinter der ersten wie der zweiten Generation der Eurocodes steht, und ein großer Dank an alle Beteiligten.
„Wir haben neue Materialien und Methoden aufgenommen und können die neuen Anforderungen an Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz sowie Folgen des Klimawandels berücksichtigen. Es war und ist eine riesige Aufgabe.“ (Gerhard Breitschaft, DIBt-Präsident, stellvertretender Vorsitzender des CEN/TC 250)
„Ich bin unglaublich stolz auf das, was wir geleistet haben, und ich bin stolz auf die Vorgehensweise, die wir gefunden haben. Als wir angefangen haben, gab es keinerlei Vorerfahrung, wie man ein Normungsprogramm von diesem Umfang und dieser Bedeutung durchführt und organisiert.“
(Steve Denton, Obmann des CEN/TC 250)