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08. April 2019

Australien diskutiert Einführung von Technischen Bewertungen für Bauprodukte nach europäischem Vorbild

In Europa werden derzeit verschiedene Möglichkeiten zur Überarbeitung der Bauproduktenverordnung [1] diskutiert. Die Europäische Kommission, die Mitgliedstaaten und die betroffenen Kreise haben sich dazu im Rahmen von Foren bereits mehrfach ausgetauscht. Diverse Studien wurden in Auftrag gegeben. Hauptziele sind und bleiben der freie Handel von Bauprodukten in Europa sowie Bürokratieabbau und Deregulierung. Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt soll weiter erleichtert werden. Dies zeigt sich auch in einer anderen Initiative der Europäischen Kommission, nämlich der aktuellen Neuausgabe der Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Waren, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht worden sind [2]. Die Verantwortung für die Bauwerkssicherheit wird hingegen weiterhin bei den Mitgliedstaaten liegen.

Während das europäische Geschehen hinsichtlich der Regelung von Bauprodukten den betroffenen Kreisen hinreichend bekannt sein dürfte, erfährt man wenig über die Vermarktung und Verwendung von Bauprodukten in außereuropäischen Staaten.      

In Australien – etwa  auf der von Europa aus gesehen anderen Seite der Erde – ist der Markt durch eine weitgehende Deregulierung und die Privatisierung von Zertifizierungsprozessen  in vielen Bereichen des Bauwesens geprägt. Dies hat jedoch offensichtlich dazu geführt, dass zunehmend Bauprodukte gehandelt und verwendet werden, die für den vorgesehenen Verwendungszweck nicht geeignet sind. Dies geht aus drei unabhängigen Studien hervor, von denen eine 2013 und zwei 2018 veröffentlicht wurden. Anlass für die Studien war unter anderem eine starke Beunruhigung der Industrie über die zunehmende Verwendung nicht geeigneter Bauprodukte. Beispielsweise wurden importierte asbesthaltige Bauprodukte gefunden. Ein Großbrand in einem Wohngebäude mit 23 Etagen (Lacrosse Building) in Melbourne 2014 war darauf zurückzuführen, dass ähnlich wie im Fall des Grenfell Towers in London Fassadenbekleidungen aus Aluminiumverbundprofilen mit einem Kern aus Polyethylen verwendet wurden. Landesweit mussten mangelhafte Elektrokabel für Gebäude zurückgerufen werden. Weitere ungeeignete Bauprodukte wurden entdeckt. Der Abschlussbericht über den Großbrand des Lacrosse Buildings [3] beinhaltet bereits einige Erkenntnisse der Studien.

Die erste der drei Untersuchungen, die von der Industrie (The Australian Industry Group) beauftragt und 2013 unter dem Titel The non-conforming building products dilemma [4] veröffentlicht wurde, befasst sich mit Ursachen und Auswirkungen der Verwendung ungeeigneter Bauprodukte in den unterschiedlichsten Bereichen des Bauwesens.

Die zweite Studie, der so genannte Shergold und Weir Bericht mit dem Titel Improving the effectiveness of compliance and enforcement systems for the building and construction industry across Australia [5], wurde vom australischen Bauministerforum beauftragt. Die Forscher hatten den Auftrag, die Gründe für die mangelnde Effektivität der existierenden Konformitätsbewertungs- und Kontrollsysteme näher zu untersuchen.

Die ditte Studie mit dem Titel Non-conforming building products: the need for a coherent and robust regulatory regime [6], die die Ergebnisse des Shergold und Weir Berichts aufgreift, wurde von einem Komitee des australischen Parlaments herausgegeben. Anlass waren Hinweise auf eine zunehmende Zahl an ungeeigneten Bauprodukten.

Nach der Veröffentlichung der drei Studien kamen mindestens zwei weitere Ereignisse hinzu, die den in den Studien dargestellten Sachverhalt bestätigen: In Sydney musste im Dezember 2018 ein Wohngebäude mit 34 Etagen (Opal Tower) kurz nach dem Bezug auf Grund von Schäden an tragenden Bauteilen evakuiert werden [7]. Im Februar 2019 kam es erneut zu einem Großbrand an einem Wohngebäude mit 41 Etagen in Melbourne (Neo 200 Building). Ursache für die schnelle Brandausbreitung war auch hier die brennbare Fassadenbekleidung.

Aus den Studien geht hervor, dass aus einer Vielzahl von Gründen der National Construction Code (NCC), der inhaltlich mit der deutschen Musterbauordnung und der Muster-Verwaltungsvorschrift  Technische Baubestimmungen vergleichbar ist, nicht in geeigneter Weise umgesetzt wird. Dazu gehört insbesondere auch die Verwendung ungeeigneter Bauprodukte. Als Ursache dafür wird unter anderem die Deregulierung und Privatisierung von Zertifizierungsprozessen sowie insbesondere das Fehlen geeigneter behördlicher Kontrollen gesehen.

Die Studien enthalten eine Vielzahl von Empfehlungen, wie Schäden künftig vermieden werden und der NCC stringenter umgesetzt werden kann. Bemerkenswert sind hier insbesondere die beiden folgenden Empfehlungen aus der vom Parlament veröffentlichten Studie:

  1. Das Bauministerforum (vergleichbar mit unserer Bauministerkonferenz) solle die Einführung eines verpflichtenden Zertifizierungssystems für Bauprodukte prüfen, von denen ein hohes Sicherheitsrisiko ausgeht.
  2. Das Bauministerforum solle prüfen, wie auf internationaler Ebene  Bauprodukte mit einem hohen Sicherheitsrisiko vorab geprüft werden. Empfohlen wird explizit, ein besonderes Augenmerk auf einschlägige Regelungen in der Europäischen Union zu richten.

Mit finanzieller Unterstützung der Regierung von Victoria wurde daraufhin ein Forschungskonsortium unter Federführung der Swinburne University of Technology in Melbourne eingerichtet. Im Rahmen einer Sondierungsstudie sollten die Forscher prüfen, in wie weit die Einführung  einer Technischen Bewertung für Bauprodukte zu deren sicheren Verwendung beitragen kann. Da es in Australien bisher nichts Derartiges gibt, informiert sich das Forschungskonsortium derzeit in einem ersten Schritt über existierende Systeme und Modelle in anderen Industrieländern. Dabei ist insbesondere auch das ETA-Verfahren von Interesse, das die Europäische Organisation für Technische Bewertung (EOTA) und die Technischen Bewertungsstellen in Europa nach den Vorgaben der Bauproduktenverordnung umsetzen.

Das Forschungskonsortium hat mit der EOTA Kontakt aufgenommen, um sich umfassend über die Organisation und die Vorgehensweise bei der Erarbeitung von Europäischen Bewertungsdokumenten (EAD) und – basierend hierauf – Europäischen Technischen Bewertungen (ETA) zu informieren. Das von dem Forschungskonsortium in der o. g. Sondierungsstudie angedachte Netzwerk zur Technischen Bewertung von Bauprodukten (Australian Technical Evaluation Network, ATEN) soll jedoch nicht nur Produktleistungen beurteilen, sondern auch die Eignung für den vorgesehenen Verwendungszweck, also den Einbau in die entsprechenden Bauwerke. Es gibt verschiedene Überlegungen dazu, wie dies umgesetzt werden könnte. Das Forschungskonsortium überlegt zudem, einen Vorschlag in seinen Forschungsbericht aufzunehmen, Europäische Technische Bewertungen (ETA) in Australien als Technische Bewertungen von Produktleistungen zu akzeptieren. Diese Idee ist sicher auch für europäische Hersteller von Interesse. Die EOTA hat weitere Unterstützung angeboten.

Die Sondierungsstudie soll noch in diesem Jahr abgeschlossen werden. In ihrem Abschlussbericht soll das Konsortium interessanterweise auch eine Empfehlung dazu abgeben, ob ein verpflichtendes Bewertungsverfahren für Bauprodukte ggf. zielführender als ein freiwilliges Verfahren ist. Die Einschätzung und Begründung des Konsortiums ist mit Spannung zu erwarten, wirft sie doch ein neues Licht auf die auch in Europa viel diskutierte Frage der (De)Regulierung von Bauprodukten. In jedem Fall zeigt das australische Beispiel, dass auch Grenzen und Kosten der Deregulierung einer Diskussion wert sind.

Literaturangaben

  • [1] Verordnung (EU) Nr. 305/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen über die Vermarktung von Bauprodukten und Zur Aufhebung der Richtlinie 89/106/EWG des Rates
  • [2] Verordnung (EU) 2019/515 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. März 2019 über die gegenseitige Anerkennung von Waren, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht worden sind und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 764/2008
  • [3] Genco, Giuseppe: Lacrosse Building Fire: Report of the Municipal Building Surveyor. City of Melbourne, April 2015
  • [4] The Australian Industry Group: The quest for a level playing field – The non-conforming building products dilemma. November 2013
  • [5] Shergold, Peter; Weir, Bronwyn: Building Confidence, Improving the effectiveness of compliance and enforcement systems for the building and construction industry across Australia. February 2018
  • [6] Economic References Committee: Non-conforming building products: the need for a coherent and robust regulatory regime. The Senate, Commonwealth of Australia, December 2018
  • [7] Unisearch: Opal Tower Investigation Interim Report. January 2019
Brandausbreitung am Neo 200 Building, 4. Februar 2019, Melbourne
Brandausbreitung am Neo 200 Building, 4. Februar 2019, Melbourne (Quelle: Simone Fox Koob, The Age)
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